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Meine erste Begegnung mit einem tropischen Regenwald
Europäische Seefahrer kannten Borneo schon im 16. Jahrhundert. Doch während des größten Teils der Zeit
seither blieb die riesige große Sunda-Insel für das Abendland ein fernes geheimnisvolles Paradies. Mit
Sultanspalästen, Gold, Sago, Pfeffer, essbaren Vogelnestern, bunten Federn, Elfenbein vom Nashornvogel, edlen
Hölzern und anderen exotischen Kostbarkeiten, mit denen man handeln konnte.
Für mich war Borneo die Schatzinsel meiner Kindheit und Jugend. Verschlungen habe ich damals Übersetzungen von
Reisebeschreibungen berühmter Naturforscher wie etwa des Engländers Alfred Russel Wallace oder seines
Landsmanns und Ornithologen John Whitehead; ebenso begeistert haben mich die Berichte des Botanikers und
Singapur-Begründers Stamford Raffles und des schwedischen Ethnologen Carl Bock, der 1878 auf der Suche nach
“wilden Waldmenschen” mehr als 100 km durch den Dschungel Borneos gezogen war.
Endlich, im September 1989, betrat ich dann selber, in Begleitung zweier Naturforscher, erstmals die Insel -
und erlebte auf einer mehrtägigen Trekkingtour in den Norden, im Bundesstaat Sabah, auch zum ersten Mal einen
tropischen Regenwald. Es war so ziemlich alles anders, als ich es mir bis dahin vorgestellt hatte. Nichts war
zu hören von dem oft beschriebenen ohrenbetäubenden Kreischen oder Brüllen im Laub verborgener Kreaturen. Der
Unterwuchs war oft licht und leicht zu passieren, nur die hakenbewährten Triebe einiger Pflanzen, die sich die
Bäume empor dem Licht entgegenrankten, behinderten da und dort unseren Vormarsch. Die säulenartigen Stämme,
die erst in ungefähr 40m Höhe ihre untersten Äste zu gewaltigen Kronen trieben, und das Dämmerlicht am Grunde
des Waldes vermittelten mir das Gefühl, mich im Innern einer mächtigen, hölzernen Kathedrale aufzuhalten.
Die schwülwarme Luft war so feucht, dass ich sie wie eine Flüssigkeit empfand, und meine gesamte Kleidung
schon nach einer halben Stunde Fußmarsch schweißgetränkt war. Kein erfrischender Lufthauch gelangte durch das
lückenlose Kronendach hinab. Es herrschte im Juli Trockenzeit und roch manchmal nach Moder und Fäulnis. Der
Wald wirkte verlassen - eine Umwelt, die mir einförmiger erschien als die mir schon damals wohlbekannte
Sahara. Allenfalls ein paar bunte Vogelfedern oder die sekundenkurz aufblitzende, irisierende Farbenpracht
eines Schmetterlings zeugten davon, dass ich mich inmitten eines der vielfältigsten Lebensräume der Erde
befand.
Tatsächlich vollzieht sich der größte Teil des sicht- oder erkennbaren Lebens im Regenwald hoch oben im
Kronendach. Dort bemerkte ich denn auch eine Schlange, die über eine beträchtliche Distanz durch die Luft von
einer Baumkrone in eine andere glitt: eine Schmuckbaumnatter, eine der legendären fliegenden Schlangen
Borneos.
Mehrfach schreckten uns kleine Flugdrachen - Echsen, die perfekt an Farbe und Borkenmuster der Bäume angepasst
sind, in deren Kronen sie leben. Kommt man ihnen zu nahe, spreizen sie, mit Hilfe enorm verlängerter Rippen,
leuchtend bunte Hautsegel und gleiten zum nächsten Baum, wo sie erneut so gut wie unauffindbar sind.
Dann am dritten Tag unserer Wanderung, erlebten wir, weshalb wir diese strapaziöse Exkursion hauptsächlich
unternommen hatten: Im Tiefland-Regenwald Borneos (Danumtal) sah ich meinen ersten Orang-Utan. Ein kräftiges
Männchen randalierte hoch oben in einer Baumkrone, anscheinend verärgert über unser Eindringen in sein Revier,
und bewarf uns gezielt mit harten Früchten.
Wie Steppen- und Wüstenbewohner leben die roten “Waldmenschen” und viele andere Spezies im Regenwald Borneos
als Nomaden. Es ist auch hier die Umwelt, die all diese Tiere zum Vagabunden-Dasein zwingt. Denn trotz der
ungeheuren Artenvielfalt finden sie nur wenige geeignete Futterbäume. Manche Bäume sind geradezu versteckt in
der großen Diversität und wohl nur in wenigen hundert Exemplaren über die ganze Insel verbreitet.
Diese Artenfülle ist das Resultat einer immer subtileren Anpassung an die jeweiligen Bedingungen, einer
unablässigen evolutionären Auseinandersetzung zwischen Pflanzen und Tieren im Zusammenwirken mit der
wechselvollen Klimageschichte über Jahrmillionen. Auch an der Grenze zum Ozean macht diese Anpassung nicht
halt: Mangroven sind ein interaktives System, das vom Austausch zwischen Regenwald und Ozean lebt. Es vermag
das gesamte Ökosystem unablässig zu vergrößern. Sie haben sich an den tropischen Meeresküsten die Zone
zwischen den Lianen tiefsten und höchsten Wasserstandes als Lebensraum erschlossen.
Diese Ausläufer der Regenwälder nennt man auch “Gezeitenwälder”. Und nirgendwo auf der Erde haben diese sich
üppiger entwickelt als an den flachen Küsten Sumatras und Borneos. Auf Borneo bilden aufeinander folgende
Mangroven-Zonen mitunter einen 20 bis 30 Kilometer breiten Gürtel, genährt von den Ablagerungen der Flüsse,
die rundum die gebirgige Insel entwässern.
Bei Ebbe stapfte ich über den Schlick, kämpfte mich durch das Gewirr bizarr geformter Wurzeln, in der
Hoffnung, einen der hier heimischen scheuen Nasenaffen zu Gesicht zu bekommen. Millionen farbenprächtiger
Krabben wimmelten über den schlammigen Boden; ein großer Wasserwaran floh vor mir in das Wurzeldickicht. An
den Ästen der Rhizophora-Mangroven hingen dicke, kugelförmige Früchte, die unten eine etwa 50 cm lange
speerförmige Wurzel ausgebildet hatten. Stieß ich dagegen, fielen sie herab und bohrten sich in den Schlick.
Auf diese Weise pflanzen sich diese Mangroven selber aus.
Das vielarmige Stelz- und Atemwurzelwerk fungiert als Fänger des mit den Flüssen herabgespülten Erdreichs.
Sobald die Wurzeln Fuß gefasst haben, beginnt es sich zwischen ihnen zu sammeln. Allmählich wächst neues Land,
aus dem Watt wird fester Boden, während sich weit draußen im Wattenmeer Pionierarten immer weiter vorwagen.
Die Mangroven verhindern, dass Meeresströmungen das herbeitransportierte Verwitterungsmaterial wegschwemmen -
und sorgen dafür, dass sich abtragende Borneo ständig in die Breite wächst.
Mit den Festland-Regenwäldern dieser Insel sind die Mangroven auf vielfältige Weise vernetzt. Die ebenso
schmackhafte wie nahrhafte Regenwaldfrucht Durian (Durio zibethinus) ist dafür ein Beispiel. Eine einzige
Nektar schlürfende Fledermaus-Art, nämlich Eonycteris spelaea, besorgt die Bestäubung der Durianblüten. Da
diese Pflanze aber nur in Abständen von Jahren blühen und fruchten (unter natürliche Bedingungen), sind die
Fledermäuse auch auf andere Blütenbäume als Nektar-Lieferanten angewiesen, und da nutzen sie insbesondere den
Mangrovenbaum Sonneratia alba.
Die Mangrovenwälder mit ihrem Wurzelgeflecht und ihrer reichen Fruchtproduktion bieten unzähligen Meeres- und
Landtieren Nahrung und Lebensraum. Führt die Flut ihre Feinde herbei, fliehen Schlammspringer genannte Fische
über die Stelzwurzeln bis in die Kronen der Mangroven. Und sie ersticken dort nicht, weil sie in ihrer
Mundhöhle Meerwasser mit sich führen, dessen Sauerstoff sie häufig auffrischen.
Diese Gezeitenwälder dienen vielen Fisch- und Krabbenarten als Laichplätze oder Kinderstuben. Etwa 80 % aller
kommerziell wichtigen Meerestiere vor den Küsten von Sabah sind auf solche amphibischen Biotope angewiesen.
Somit sind die Regenwälder Borneos nicht nur durch den Wasserkreislauf mit dem Ozean verbunden, sondern auch
über ihre Pflanzenmasse. Und diese interaktive Wald-Ozeansystem ist für mich einer der eindrucksvollsten
Beweise dafür, dass es sich bei unserem Planeten um einen einzigartigen hochkomplex vernetzten Organismus
handelt.
Tags darauf geht einer meiner alten Träume in Erfüllung. Bestialischer Gestank, wie von einem verwesenden
großen Tier, dringt mir in die Nase. Nach ein paar Metern stehe ich vor einer riesigen roten, seltsam
blattlosen Blüte, die bedeckt ist von schwarzen Fliegen und Käfern. Der Gestank provoziert Brechreiz, trotzdem
bin ich begeistert von der ersten Rafflesia, die ich sehe.
Im Jahr 2000 besuchte ich erneut Borneo. Aber was 20 Jahre zuvor einer abenteuerlichen Expedition bedurfte,
ist nunmehr ein Kinderspiel: die Begegnung mit den roten “Waldmenschen”. Im heutigen Schutzgebiet von Sepilok
reihe ich mich in eine Menschenschlange aus vielen hundert Touristen. Ein Holzsteg führt in den Wald, zu einer
Plattform, von der dicke Kunststoffseile nach allen Seiten ausgespannt sind. Punkt zehn Uhr schwingen sich
Orang-Utans an den Seilen entlang auf die Plattform und erhalten dort von einem Ranger ihre tägliche Milch-
und Bananen-Ration.
Auch im Kinabalu-Nationalpark wird dem Besucher eine didaktisch eindringliche Einführung in die Wunder des
Waldes geboten: Ich wandele in 50 Meter Höhe auf schwankenden, an Seilen aufgehängten Stegen durch die
Baumkronen, eine Welt, die vor 20 Jahren völlig unzugänglich war. Auf Schautafeln werden die Tier- und
Pflanzenarten sowie ökologische Zusammenhänge beschrieben.
Und doch: All diese so aufwendig touristisch erschlossenen Naturschutzgebiete, in denen sich ein Großteil der
natürlichen Sensationen Borneos in wenigen Tagen erleben lässt, sind schieres Blendwerk. Sie täuschen heute
über das ökologische Desaster hinweg, das sich in einem kurzen Zeitraum in Südostasien abgespielt hat. Schon
beim Flug von Kuching nach Kota Kinabalu fiel mir deutlich auf, dass das einst lückenlose Mosaik des
Regenwaldes verschwunden war.
1990 war ich fotografisch kaum bewandert und Digitalfotografie stand noch in den Sternen. Daher existieren
kaum Fotodokumente von meinem ersten Regenwald-Erlebnis. Das große Bild oben ist entliehen von einer späteren
Reise in die gleiche Gegend, dem Danumtal.