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Seit fast einer Stunde ist das Flugzeug unterwegs, und noch immer zieht unter uns nur Wald vorbei. Tropischer
Regenwald, jene Landschaftsform also, die wir fast nur noch im Zustand fortschreitender Verwüstung kennen.
Hier dagegen dehnt er sich augenscheinlich unversehrt und endlos in alle Richtungen. Der Anblick urtümlichen
Grüns solchen Ausmaßes überrascht auch den Vorbereiteten und beglückt auf das Tiefste. So bleibt zunächst
unbemerkt, dass der Pilot den Sinkflug einleitet – bis sich auf einmal ein schimmernder Urwaldstrom durchs
Wipfeldickicht schlängelt. Felswände erscheinen, Ausläufer eines Hochlandes, das genauso zugewachsen ist wie
die zuvor überflogenen Ebenen. Die Felsen flankieren ein Flusstal, das wir nun entlang fliegen, direkt auf
einen Wasserfall zu. Über dem Kaieteur-Wasserfall im Hochland von Guyana stürzt der Potaro-Fluss im freien
Fall 226 Meter hinunter. Das ist mehr als die vierfache Höhe der nordamerikanischen Niagarafälle und die
doppelte der Victoriafälle in Afrika. Außerdem sind diese schäumenden Massen, wie jetzt bei unserem Anflug,
bereits von weitem sichtbar. Kein Zweifel: Dies ist der schönste Wasserfall des Planeten.
Warum kennen ihn nur wenige? Sicher auch, weil schon Guyana nicht allen ein Begriff ist. Manche suchen das
Land zuerst in Afrika. Andere verorten es nur deswegen korrekt in Südamerika, weil sie von Französisch-Guyana
gehört haben, von wo aus Europa seine Raketen ins All startet. Doch es gab auch ein Britisch-Guyana, das 1966
in die Unabhängigkeit entlassen wurde und seither die Weltpresse kaum beschäftigt. Anderswo in Lateinamerika
war immer mehr los. Und Guyana ist nicht einmal Lateinamerika. Hier spricht man Englisch, und abgesehen von
den Amerindians, den Ureinwohnern, stammen die meisten Guyaner von Afrikanern oder Indern ab. Kulturell – und
was die Verkehrsanbindung angeht – gehört Guyana zur Karibik. Es ist nur deutlich leerer als diese: Der Staat
hat etwa die Größe Westdeutschlands, aber weniger Einwohner als Frankfurt am Main. Die allermeisten von ihnen
leben an der Küste, in oder unweit der Hauptstadt Georgetown, wo heute Mittag auch unsere Cessna gestartet
war, um ihre dreizehn Passagiere zu den 230 Kilometer südwestlich gelegenen Kaieteurfällen zu bringen.
Unter erheblichem Rumpeln setzt die Maschine auf. Die Kante des Wasserfalls ist keine 500 Meter von der
Urwaldpiste entfernt, doch sieht man ihn von hier aus nicht. Man sieht auch sonst nichts, was auf eine
Sehenswürdigkeit dieses Kalibers schließen ließe: keine Restaurants, nicht einmal ein Café. Nur ein Holzhaus
mit Sitzgelegenheiten, einer Toilette und einem einzigen kleinen Shop mit amerindischen Handarbeiten. Viel
mehr gibt es nicht im Besucherzentrum des Kaieteur National Park. Die Getränke kommen aus einer Kühlbox, die
im Flugzeug mitgekommen ist. Und hinter dem Haus beginnt der Dschungel. Die Wegweiser zu den Aussichtspunkten
auf den Wasserfall weisen auf Trampelpfade durch die regennasse Botanik. Eine junge Frau im schulterfreien
kurzen Kleid schaut etwas skeptisch auf ihre feinen Schuhe. Sie gehört zu den Tagesausflüglern, welche die
drei Cessnas heute hierhergeflogen haben. Drei an einem Tag, das ist viel für einen Wochentag, auch jetzt in
der Hochsaison. Spätestens um 16 Uhr geht es für die Tagesgäste wieder zurück, denn die kleinen Flugzeuge
dürfen nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr fliegen. „Es kann vorkommen, dass man hier wegen des Wetters
erst mit Verzögerung landen kann“, erklärt Washington, der diensthabende Ranger. „Dann haben die Leute nur
eine halbe Stunde.“ Wie gut, dass es auch ein kleines Gästehaus gibt, das Gruppen über einen Tourveranstalter
buchen können. Doch dazu später.
Während die Tagestouristen also zu den Aussichtspunkten eilen, zeigt uns Washington sein Büro. An einer Tafel
stehen die Besucherzahlen für 2018. Insgesamt 8191 waren es. Die meisten kamen mit dem Flugzeug, nur 174 über
Land, also mit dem Boot und am Ende zu Fuß. Massentourismus ist was anderes: Die Victoriafälle etwa haben 2017
rund 520.000 Menschen besichtigt, die Fälle des Iguazú an der Grenze zwischen Brasilien und Argentinien im
selben Jahr 1,7 Millionen, die Niagarafälle sogar 12 Millionen. Aber zu diesen Naturwundern führen ja auch
Straßen. Hierher dagegen kommt man selbst mit Vierradantrieb nicht. Washington und die sieben anderen Ranger
patrouillieren ihr 627 Quadratkilometer großes Naturschutzgebiet zu Fuß. „Die gesamte Grenze können wir nicht
überwachen“, sagt er. „Steilhänge, reißende Bäche, das Gelände ist schwierig.“
Genau deswegen ist es hier aber auch so reizvoll, auch ganz abgesehen vom Wasserfall. Das Kaieteur-Plateau ist
Teil des Guyana-Schildes, der von Venezuela bis nach Französisch-Guyana reicht. Er ist uralt. Die letzten
Gebirgsbildungsprozesse endeten hier vor 1,9 Milliarden Jahren. Darüber wurde das Sandstein-Konglomerat
abgelagert, über das heute der Kaieteur hinweg donnert. Daran nagen nun die Elemente und bilden Abhänge, in
denen der Bergwald rasch in Tieflandwald übergeht. Das ergibt eine Vielzahl von Habitaten und die höchste
Artenvielfalt des Landes, ja des gesamten Guyana-Schildes. So ist Kaieteur unter anderem ein Mekka für
Vogelbeobachter. Ein Biodiversitäts-Gutachten des World Wildlife Fund zählte 2017 hier 209 verschiedene
Vogelarten, davon 28, die nur auf dem Guyana-Schild vorkommen.
Und glaubten wir eben noch, für uns ornithologische Fußgänger sei derlei Federvieh entweder zu unscheinbar
oder so scheu, dass man dafür tagelang auf der Lauer liegen müsse, werden wir nun von Waldyke „Wally“ Prince
eines Besseren belehrt. Der kleine freundliche Mann mit dem abgegriffenen Fernglas vor dem Bauch gilt als
einer der besten Naturführer Guyanas. „Der Wasserfall fliegt uns nicht weg“, sagt er, „aber der
Cock-of-the-Rock, wenn es zu regnen anfängt.“ Gemeint ist Rupicola rupicola, der Tiefland-Felsenhahn. Wally
weiß, wo die prächtig gefiederten Männchen dieser Spezies hier für gewöhnlich ihre komplexen Balztänze
aufführen. Dort müsste man jetzt welche sehen können. Und tatsächlich, nur Minuten nachdem Wally uns in ein
Dickicht aus stengeligen Bäumen geführt hat, sehen wir einen der knallorangenen Gesellen auf einem Ast sitzen.
Zwei weitere lassen nicht lange auf sich warten.
Auch später auf den Wegen zwischen den Aussichtspunkten sehen wir viel, was wir ohne Wally nie gesehen hätten.
Ein seltsam rosarotes moosartiges Gewächs etwa. „Eine fleischfressende Pflanze“, erklärt er. Die Humusschicht
über dem Konglomeratfels sei hier so dünn, dass einige Spezies sich Insekten einverleibten, um an Nährstoffe
zu kommen. Und dann sind da die großen Bromelien, Verwandte der Ananas. „Nicht die Blätter berühren“, warnt
Wally. Nein, giftig ist da nichts, aber jede Erschütterung lässt den überaus fotogenen Untermieter dieser
Pflanze in seinem kleinen Teich zwischen den Blattansätzen abtauchen: den winzigen goldenen Frosch. Später
werden wir ihn auch zu Gesicht bekommen.
Leichter Regen hat eingesetzt, als wir das Gästehaus erreichen. Die Holzhütte auf Stelzen mit recht
rudimentären sanitären Einrichtungen wurde 1929 errichtet, als Unterkunft für Wissenschaftler. Es gibt kaltes
Wasser und außerhalb der späten Nachtstunden auch elektrischen Strom – aber zu essen und trinken nur, was der
betreuende Tourveranstalter mitbringt. In unserem Fall bereitet Carlos Allie von „Wilderness Explorers“ auf
dem kleinen Gasherd ein üppiges Dinner für neun Personen. So viele Leute passen hier gerade herein, wenn drei
von ihnen in Hängematten schlafen. Während Carlos kocht, führt uns Wally zum Wasserfall. Endlich. Keine
hundert Meter und wir stehen am Westufer des Potaro, exakt an der Kante, über die seine teebraunen
Wassermassen in unauslotbare Tiefe stürzen. Hätten wir vorab gewusst, dass wir diesen Ort bei tiefhängenden
Wolken erreichen, wären wir sicher enttäuscht gewesen. Doch in diesem halbverhüllten Zustand entfaltet der
Katarakt nun eine ganz eigene, besondere Atmosphäre. Unerwartet friedlich ist diese Abendstunde am gurgelnden
Abgrund. Nur die Tepui-Mauersegler haben es eilig. In Scharen sausen sie über uns hinweg und stürzen sich die
Fälle hinunter. Sie schlafen in der Kaverne hinter dem fallenden Wasser, geschätzt eine Million von ihnen
übernachtet dort.
Später, in der Dunkelheit, wenn der Abgrund nur noch zu hören ist, kommt Wally mit uns noch einmal hierher, um
im Taschenlampenschein nach nächtlichen Bewohnern dieser Zwischenwelt zu fahnden: nach Fischen, Fröschen,
Krebsen und den rastlosen Blattschneiderameisen. Dann im Morgengrauen – und noch einmal am Vormittag vor dem
Abflug – können wir bei besserem Wetter schließlich doch die schwindelige Tiefe hinab bis an den Fuß der Fälle
sehen. Am Ende erscheint auch ein Regenbogen. All das ohne Zeichen der Zivilisation, vor allem ohne alle
Geländer, Zäune oder Absperrketten. Genau das aber macht den Zauber dieses Ortes aus, seine tiefe
Ursprünglichkeit: dass beim Besuch die Besuchtheit und selbst die Besuchbarkeit aus dem Blick bleiben – und
die Besucher möglichst auch. Bislang sind es dazu ausreichend wenige. Wie ganz Guyana bislang vor allem
deswegen so ursprünglich geblieben ist, weil es nach den Maßstäben anderer Weltgegenden ähnlichen Potentials
noch weitgehend unentdeckt ist. Letzteres möchte der guyanische Tourismussektor begreiflicherweise ändern.
Sollen die Besucher aber nicht in Massen kommen, dann müssen diejenigen, die kommen, mehr Geld im Land lassen.
Hier ist Augenmaß gefragt. „Eine Hotelanlage in Sichtweite der Fälle würde Kaieteur zu einen Ort machen, wie
es ihn anderswo schon gibt“, sagt Brian Mullis, der neue Chef der Guyana Tourism Authority, ein Amerikaner,
der sich mit nachhaltigem Tourismus bereits auskennt. Zugleich kann für Mullis am Kaieteur nicht alles beim
Alten bleiben. Das alte Gästehaus taugt vielleicht für gehobenen Rucksacktourismus. Aber auch für Besucher,
die für etwas mehr Komfort im Dschungel mehr zu zahlen bereit sind, muss es eine Möglichkeit geben, die Fälle
in den zauberhaften Abendstunden zu erleben. Tatsächlich ist eine entsprechende Lodge in Planung. Ein Dilemma
bleibt es trotzdem, mit Naturschönheit zu verdienen, ohne sie anzutasten. Das wird kaum gehen, ohne der
Knappheit der Ressource durch ein knapp gehaltenes Angebot gerecht zu werden. Auf der anderen Seite bietet
Tourismus langfristig eine, wenn nicht die einzige Chance, jene Ursprünglichkeit überhaupt zu erhalten.
Denn auch in Guyana haben Leute mit eher kurzfristigen Interessen ihr Auge auf den Regenwald geworfen. Am
Kaieteur locken sie Diamanten und Gold, das sie mit Quecksilber aus dem Flusssediment waschen. Erst 2016
ließen die guyanischen Behörden in der Pufferzone des Nationalparks eine illegale brasilianische
Schürfoperation auffliegen. Im Park selbst halten einige Familien aus umliegenden Dörfern Schürfrechte aus
Zeiten vor Einrichtung des Nationalparks, aber auch sie würden gerne zu schwererem Gerät greifen, als es ihnen
momentan erlaubt ist. Tourismus könnte ihnen eine alternative Einnahmequelle bieten. So unberührt der
Regenwald Guyanas aus der Luft erscheinen mag, auch unter seinen Wipfeln brechen neue Zeiten an.